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CHICHI

CHICHI

Ferropolis im Sommer, splash! 2022. Um den Pizzastand Gustavo Gusto sammelt sich eine riesige Traube Menschen. Handys und Kameras sind auf das Ausgabefenster gerichtet, in dem eine junge Frau sitzt, die Beine nach draußen baumeln lässt und sich die Seele aus dem Leib rappt. Das Talent der performenden Pizza-Verkäuferin spricht sich rasant auf dem Festivalgelände herum, auf TikTok geht sie viral. Der gegenüberliegende Stand von Krombacher lädt die Rapperin spontan zu einer Performance auf der eigenen Stage ein. Und auch das splash!-Orgateam kann sich der charismatischen Künstlerin nicht entziehen. Am Festivalsamstag steht CHICHI letztlich auf der Green Stage des Festivals und performt. Von der Tellerwäscherin zur Festivalbühne: Deutschrap-Edition.

So gescriptet die Geschichte auch klingt – sie ist „einfach so passiert“: CHICHI war schon etwas angetüdelt, als sie einem Kollegen am Pizzastand ihre Songs zeigte. Sofort hieß es „Schließ dich direkt an die Anlage an“, und CHICHI schrieb Geschichte. Der Mini-Hype kommt aber erst ein paar Tage nach dem Festival wirklich bei der Künstlerin an:

Mein ganzes Leben läuft so ab, dass ich in solch ein Momentum stolpere – einfach, weil ich eine recht offene Person bin.“

– CHICHI im Interview mit 365 Fe*male MCs

Dass solche Schlüsselmomente die Wahl-Hamburgerin immer mehr in Richtung Musik pushen, stellt kein Zufall dar. Mit einer Tanzlehrerin als Mutter und einem musikaffinen Vater wird CHICHI schon früh in ihrer nordrhein-westfälischen Heimat an verschiedene Sounds herangeführt. Reist sie zu ihrer Großmutter nach Brasilien, erlebt sie dort die traditionellen sonntäglichen Treffen ihrer Familie. Von der heimischen Garage aus wird dort die Nachbarschaft mit Bossa Nova und Baile Funk unterhalten, alle singen und tanzen mit. Auch MTV und VIVA übernehmen die musikalische Früherziehung von CHICHI, die so quasi zwangsläufig mit HipHop à la Snoop Dogg, Biggie und Aaliyah in Berührung kommt.

Dass CHICHI eine Stimme hat, ist ihr früh bewusst. Ihre ersten Gehversuche als Musikerin verdankt sie jedoch wieder einem Momentum: Als sie beruflich in Bremen ist, will sie sich nur schnell ein wenig Weed organisieren und landet in einem Tonstudio. Dort connectet sie und landet spontan vor dem Mikrofon, um ihren ersten Track aufzunehmen. Davon angefixt, investiert sie direkt am nächsten Tag ein halbes Vermögen in Musikequipment und das Programm Logic.

Immer weiter lernen, über sich hinauswachsen und hustlen – das ist seither der rote Faden in CHICHIs Artistbiografie. 2021 veröffentlicht sie mit „Montag“ ihren ersten Track. Der ironische Storyteller erzählt ihre eigene Geschichte als notorische Schulschwänzerin, die sich neben einem Krankenschein auch Tilidin organisiert, um es weiterzuverkaufen. Heute steht CHICHI dem Track eher kritisch gegenüber und möchte damit nicht unbedingt als Vorbild für junge Menschen herhalten.

Recht vorbildlich geht CHICHI dagegen ihren Weg als Rapperin. Vor anderthalb Jahren entscheidet sie sich gegen Gesang und für HipHop. Als sie auf dem splash! anheuert, hat sie gerade einmal ein Repertoire von zwei Tracks – dafür aber einen umso größeren inneren Antrieb. Deshalb nennt sie als wichtigsten Schlüsselmoment ihrer Karriere auch nicht das Festival, sondern eine Erkenntnis:

Ich habe gemerkt, dass der Schlüssel zu allem man selbst ist. Selbstliebe. Sich selbst wertzuschätzen ist das A und O, denn dann kann dir auch niemand anderes was sagen.“

– CHICHI im Interview mit 365 Fe*male MCs

Es ist insbesondere die Erinnerung an ihren kurz vor dem splash! 2022 verstorbenen Vater, die sie jegliche Selbstzweifel zur Seite schieben lässt.

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Mein Papa hatte drei Jahre Krebs, das war richtig schwierig. Er hat eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Er meinte zu mir: Du gehörst auf die Bühne. Wenn du dorthin willst, dann spring einfach ins kalte Wasser. Viele Affirmationen, die ich mir jeden Tag zwei bis drei Mal sage, habe ich gemeinsam mit meinem Vater gemacht. Er ist immer bei mir, wenn ich performe.“

– CHICHI im Interview mit 365 Fe*male MCs

… so auch, als sich alle Kameras auf dem splash! plötzlich auf sie richten und die Musikindustrie Auge macht. Für CHICHI ist es ein Zeichen: „Ich bin für die Bühne gemacht, bei mir legt sich dort ein Schalter um. Ab dem Zeitpunkt, wo ich dort auf diese Bühne gekommen bin, habe ich meine Angst verloren.“ Das wachsende Interesse aus der Branche quittiert sie heute schulterzuckend mit der Erkenntnis: „Jeder ist ein Manager“, und entscheidet sich für den Weg als Independent-Künstlerin. Innerhalb eines Jahres schart sie so nach und nach ein Team um sich, welches wirklich an CHICHI glaubt und im Bereich Management, Booking und Video bereit ist, mit ihr zu wachsen. Wie wohl alle Independent-Artists kämpft sie gegen Social Media-Windmühlen – „dass Leute einen überhaupt sehen, ist die größte Challenge“ – und erarbeitet sich zugleich eine Legacy als talentierte Live-MC.

Mit mehreren neuen Songs, Musikvideos und Projekten in der Pipeline blickt sie in die Zukunft. Ihre Ambitionen richten sich dabei nicht nur auf die eigene Karriere: Sie wünsche sich klar mehr Präsenz und Support von fe:male MCs, auch untereinander und ganz besonders in Hamburg: „Ich weiß schon, warum es in Berlin eher funktioniert als hier. Die featuren sich alle gegenseitig. Das machen wir in Hamburg nicht. Dabei will ich nur Love Energy.“

Und auch für sich selbst hat CHICHI klare Ziele vor Augen: „Ich habe mir eine CHICHI-Chain geholt, die unecht ist, und habe mir gesagt: In einem Jahr habe ich eine echte.“ Bis dahin bleibt die Hamburger Rapperin wissbegierig, lernwillig und vor allem hungrig.

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