Wenn sich ein:e Künstler:in derart rasant auf dem Nichts auf den Radar katapultiert wie Anycia, bleiben die kritischen Fragen nicht aus. Handelt es sich um eine Industry-Plant, um eine, die ihre Popularität einzig und allein ihren familiären Beziehungen verdankt? Bei reddit orakeln sie so. Ob an den Gerüchten etwas dran ist, ihr Daddy arbeite im Musikbusiness und habe zugunsten seiner Tochter die richtigen Strippen gezogen: Wir wissen es nicht. Angesichts von Anycias auf der Hand liegendem Talent, erscheint die Frage, wie wir von ihr Kenntnis erlangt haben, allerdings einigermaßen zweitrangig. Wir sind einfach froh, dass es sich so verhält.
„Alles geschah wirklich rasend schnell“, zeigt sich Anycia selbst gegenüber rollingout.com vom eigenen Erfolg überrascht. „Aber alles in allem fühle ich mich überwältigt von Freude, ich bin aufgeregt und einfach glücklich, zu sehen, wohin mich das alles noch führt.“ „Das alles“ beginnt für Alycia in der Stadt, für die man sie später auch kennen soll: in Atlanta. Hier kommt sie als Kind einer sehr jungen Mutter zur Welt, hier wächst sie auf, auch wenn die Familie zwischenzeitlich in New Orleans residiert, wo sie ihre Wurzeln hat. Der im Musikbusiness angeblich so einflussreiche Vater kommt in Anycias eigener Erzählung nicht vor. Ihre Mum sei praktisch alleinerziehend gewesen, so berichtet sie, sie selbst zudem lange ein Einzelkind: Ihr Bruder ist elf Jahre jünger. „Ich war verwöhnt und wahrscheinlich schon ein bisschen verzogen“, gesteht die junge Künstlerin und betont: „Ich hatte eine gute Zeit.“ Dafür sorgte neben ihrer Mutter vor allem die Großmutter, von der sich Anycia stark unterstützt fühlt. „Die Männer waren im Knast oder aus anderen Gründen abwesend. Alles, das ich habe, hab‘ ich von Frauen bekommen.“
„Ich war schon immer ein aufgeschlossenes, kreatives Kind, ich wusste genau, was ich will.“ Ihre Kreativität schlägt sich in ständig wechselnden Berufsvorstellungen nieder: Von „irgendwas mit Kindern“ über Tierärztin bis zur Polizeifotografin kann sich Anycia alles mögliche für sich vorstellen. Davon, irgendwann mit dem Mic in der Hand auf einer Bühne zu stehen, ist in diesen Tagträumereien aber noch keine Rede. Es kommt ohnehin anders: Weil sie sich weigert, sich von irgendjemandem irgendetwas sagen zu lassen, fangen irgendwann die schulischen Probleme an. Anycia eckt an, schmeißt hin, landet irgendwann an einer Barber School. Warum auch nicht? Kreativität kann man auch im Frisörsalon gebrauchen.
Mit 16 das nächste Problem: Nachdem sie sich tagelang unwohl gefühlt hatte, macht Anycia auf dem Schulklo einen Schwangerschaftstest: Er fällt positiv aus. Etliche Jahre später spricht sie im Off The Porch-Interview offen über ihre Entscheidung, dieses Baby nicht bekommen zu haben: „My body, my choice“, so ihre unmissverständliche Einstellung. „Mama’s baby, daddy’s maybe. Oft genug sind die Väter über alle Berge, aber eine Mama bist du 4 life.“ Sie selbst beschließt für sich, (noch) keine sein zu wollen.
… was aber dann? Musik, erklärt sie, habe sie schon immer geliebt, und ihre Heimatstadt bietet auch fruchtbaren Boden dafür. Zwar sei die Szene in Atlanta sehr zersplittert, berichtet Anycia, „aber wir sind alle miteinander aufgewachsen oder zusammen zur Schule gegangen.“ Man kennt sich also und hängt miteinander ab. Um sich selbst zu versuchen, fehlen ihr jedoch das Selbstvertrauen, die Erfahrung, und vor allem glaubt sie, nicht genug zu erzählen zu haben. „Es dauerte eine Weile, bis ich mich bereit fühlte“, blickt sie zurück, und selbst dann musste sie zunächst ihren Sound finden. „Viele Leute wissen gar nicht, dass ich auch singen kann“, erzählt sie zum Beispiel bei ourgenerationmusic.com, und weiter, dass sie sich zunächst an melancholischem R’n’B versucht habe. „Ich war aber nicht gut in diesem Schnulzenzeug, es hat mich runtergezogen.“ Erst eine zerbrochene Beziehung schubst sie in eine für sie passendere Richtung: Frisch getrennt, lässt sie im Sommer 2022 ihren Aggressionen freien Lauf, und plötzlich geht alles so schnell, als habe Anycia etwas aufzuholen.
Die Aufnahmen zu ihrem ersten Song „Kimora Lee“ gestalten sich einigermaßen abenteuerlich: Die Lyrics dazu hatte sie eigentlich auf ihrem Handy gespeichert, die unheilige Kombination aus leerem Akku und kaputtem Ladegerät versperrt ihr jedoch den Zugriff. Nichts allerdings, von dem sich eine inzwischen wild entschlossene Anycia aufhalten ließe: Sie kritzelt den Text aus dem Kopf auf eine Papierserviette, geht damit in die Booth und hinterlässt ersten Eindruck. Den Durchbruch beschert ihr jedoch „So What“:
… der nahezu sofort mächtige Kreise zieht. NBA-Star Kevin Durant klatscht öffentlich Beifall, Pharrell folgt ihren Social Media-Kanälen, Drake zeigt sich begeistert, J. Cole schreibt: „I’m a big fan, I love your voice.“ Guten Grund dafür hat er: Mit ihrer tiefen Tonlage und der lakonisch-ungerührten Delivery entwickeln Anycias Vocals wahrlich einen ganz eigenen Reiz. Der bleibt auch dem Detroiter Rapper Veeze nicht verborgen, der die Newcomerin als Support mit auf Tour nimmt. Im Dezember 2022 nennt Anycia noch Cardi B und Latto als ihre Wunsch-Kollabo-Partnerinnen, wenig später hat sie sich mindestens die Hälfte dieser Träume bereits erfüllt:
Außerdem blickt sie inzwischen auf Features mit Waka Flocka Flame, J.I.D. und Tierra Whack zurück, hat eine EP namens „Extra“ veröffentlicht, und kaum eine Hot-artist-to-watch-Liste kommt ohne sie aus. Die Presse bescheinigt Anycia den Swag von Ice Spice in Kombination mit dem Appeal von Sexyy Red… mit Nepotismus allein lässt sich die allerorten herrschende Begeisterung nicht mehr erklären. Was also ist dein Geheimnis, Anycia? Kein Autotune, keine Stimmeffekte, sagt sie, dafür ungefilterte Authentizität. „So lange du du selbst bist, kann dir niemand etwas.“
I’m blessed, I’m grateful, I have high hopes for myself.“
Mit Recht, Anycia. Mit Recht.