Wenn du in keine existierende Schublade passt… dann baust du dir eben deine eigene. Zumindest, wenn du LEX the Lexicon Artist bist. „Ich hatte eh nie eine Chance, wie ein ‚richtiger Rapper‘ auszusehen“, ist sich diese Künstlerin nur zu bewusst. „Also versuch‘ ich es gar nicht erst.“ Den vermeintlichen Nachteil münzt sie allerdings sehr schnell in einen handfesten Vorteil um: „Wenn die verdammt beste Sache im Raum eine asiatische Frau ist, dann fällt das den Leuten auf“, erklärt sie gegenüber Resonate. „Nerds und Freaks lieben mich.“
Das tun sie mit jedem Recht der Welt. LEX the Lexicon Artist zimmert denen, die zwischen allen Stühlen sitzen, ja auch ihren eigenen Thron. Als „verkopften Pop-Rap für Nerds“ beschreibt sie selbst ihre Kunst, bei der sie besonders auf eine Sache Wert legt: Sie muss gut unterhalten. „Mir ist völlig egal, ob ich ’normal‘ oder ’seriös‘ klinge. Ich kümmere mich nur darum, dass es sich nach Spaß anhört.“ Entsprechend gestaltet sie auch ihre Bühnenshows: Mit Live-Band im Rücken und vielen Comedy-Elementen sorgt sie für Entertainment, das im Gedächtnis bleibt.
LEX‚ Geschichte nimmt ihren Anfang in Taipeh: Hier erblickt Alex Liu Sun das Licht der Welt. Schon recht früh kommt sie mit HipHop in Berührung. Sehr zum Missfallen der Eltern, begeistert sie sich für Eminem, 50 Cent, die Black Eyed Peas, Kanye West… die US-Superstars des Genres eben, deren Ruhm bis nach Taiwan strahlt. Auch populäre Pop- und Rock-Acts haben es ihr angetan: Sie feiert Linkin Park und Lady Gaga, Avenged Sevenfold und PSY. Mit dem Internet kommen die abseitigeren, nischigeren Künstler:innen: LEX entdeckt außerdem UK Grime und Industrial für sich. „Wenn mich jemand nach meinen Hobbys fragt, witzele ich immer, dass es da außer Musik nicht viel gibt“, so LEX. Tatsächlich interessiert sie sich aber auch für Theater, träumt von einer Rolle in einem Musical und davon, einen Bestseller-Roman zu schreiben.
Auch diese großen Wunschvorstellungen keimten jedoch aus einem klitzekleinen Samenkorn: Ihren ersten eigenen Rap-Song „All I’ve Got“ schreibt LEX in der achten Klasse als Teil eines Projekts im Englischunterricht. Schon hier hält sie sich nicht damit auf, irgendwelche Storys oder Posen von anderen zu kopieren, sondern vertritt ihren ur-eigenen Standpunkt: Sie erzählt davon, sich ausgeschlossen zu fühlen, weil sie unentwegt am Lernen sei. Das Lob ihres Lehrers spornt zum Weitermachen an. LEX beschränkt sich dabei jedoch keineswegs auf Rap. Mehrere Jahre macht sie sich als Adiao einen Namen als Beatboxerin. Im College tritt sie einer A-Cappella-Gruppe bei. Eine Karriere als Rapperin geht sie erst mit 22 ernsthaft an. Zu diesem Zeitpunkt lebt sie schon seit vier Jahren im sonnigen Kalifornien: 2012, mit 18, ist sie hergezogen, inzwischen fühlt sie sich in New York zu Hause.
Den Namen LEX verpasst ihr ein früherer Arbeitgeber – wegen Alex, klar, aber auch Supermans Erz-Rivale Lex Luthor soll dafür Pate gestanden haben: „Er sagte, ich hätte eine ähnliche Persönlichkeit.“ Ob das stimmt, möchten wir lieber nicht zu genau wissen, eine Sache stellt die aufstrebende Künstlerin jedoch recht schnell fest: „LEX“ erweist sich als komplett un-googlebar. „Ich habe also eine ganze Weile über coole Namen nachgedacht und festgestellt, dass ich darin schon immer lausig war. Also lief es auf einen Zusatz zu LEX hinaus.“ Sie wählt einen, in dem neben dem „Lexicon“ auch die „Con“ drinsteckt: „‚The Lexicon Artist‚ bedeutet, ich spiele mit Worten.“
Nicht nur mit Worten – In LEX‚ Nerd-Rap reichen sich die verschiedensten Einflüsse die Hände: 2000er-Mainstream-HipHop und obskure Internet-Rapper:innen haben ihre Spuren hinterlassen, Gangsta- und Conscious-Rap, Rock, Pop, Metal und Industrial. LEX‚ Vortrag verrät darüber hinaus ihre Nähe zur Theaterbühne, und dass sie um 2021 einen recht erfolgreichen Comedy-Meme-Kanal bei YouTube betrieben hatte, schimmert obendrein durch. Zudem spielt sie Geige, Bass und Keyboards. Stoff für ihre Texte liefert ihr ihre persönliche Situation reichlich. Als asiatische Frau in der US-amerikanischen Diaspora sieht sich LEX unentwegt mit Stereotypen, Klischees und Vorurteilen konfrontiert, mit denen sie sich nur allzu gerne auseinandersetzt. Sie berichtet aus ihrer Perspektive, aus der Kluft zwischen den Kulturen heraus und liefert Menschen mit einer ähnlichen Biografie reichlich Anknüpfungspunkte.
Natürlich bleiben die Nörgeleien nicht aus: „Ich bin eine asiatisch-amerikanische Frau, die rappt“, so LEX gegenüber altwire.net. „Irgendjemand findet sich immer, um mir kulturelle Aneignung vorzuwerfen. Ich möchte mir diesen Schuh nicht anziehen. Eine meiner Regeln besagt, niemals etwas zu behaupten, das ich nicht selbst erfahren habe, oder etwas zu sagen oder zu tragen, das sich nicht authentisch anfühlt. Deswegen trage ich keine ‚HipHop-Mode‘ oder imitiere irgendeinen Akzent. Ich respektiere die Wurzeln von HipHop UND ich benutze Rap als Ausdrucksform, um etwas zu machen, das wahrhaftig von mir kommt […] Trotzdem kommt immer irgendeiner an und behauptet, ich sei ein Poser, ein Witz, ich würde mir etwas aneignen, ich sei nicht ‚real HipHop‘. Die Leute können sagen, was sie wollen. Ich muss ja nicht hinhören.“
Recht so. Auch die eigene innere Stimme, die ihr einzureden versucht, sie sei nicht gut oder zumindest nicht gut genug, ringt sie nieder: Ihre Selbstzweifel und Ängste macht sie, allem Spaß zum Trotz, auch immer wieder zu Themen ihrer Songs. Weil sie bei allem, das sie tut, stets darauf achtet, zu einhundert Prozent sie selbst zu sein, betrachtet LEX ihre Diskografie als eine Art Chronik ihres Lebens. Von ihrem selbstbetitelten Debüt aus dem Jahr 2018 über diverse EPs und das zweite Album „Alter Ego“ zeigen ihre Veröffentlichungen deutlich ihren Reifeprozess als Rapperin, als Künstlerin und als Mensch.
Zwei Ratschläge hat LEX the Lexicon Artist parat, die sich bei Weitem nicht nur aufstrebende Künstler:innen zu Herzen nehmen sollten. Zum einen: „Sei kooperativ, nicht kompetitiv!“ In dem festen Glauben, dass man miteinander mehr erreichen kann als gegeneinander, initiiert sie die Facebook-Gruppe Asian American Emcee Network, um Künstler:innen mit ähnlichen Biografien in Kontakt und zum Austausch zu bringen. Ihre zweite, fast noch wichtigere Empfehlung: „Sei lustig!“ Das bedarf eigentlich keiner weiteren Erklärung. Wir lassen LEX aber trotzdem erzählen, einfach, weil allein das schon lustig ist:
Meine Bühnenshow ist zum Lachen und übertrieben energetisch. Ich versuche immer, irgendetwas Abseitiges mit auf die Bühne zu bringen. Das kann ein Sandwich-Wettessen sein, Kostüme, oder ich hol‘ den aufblasbaren T-Rex raus. Ich will, dass die Leute, wenn sie gehen, denken: ‚Was zur Hölle war DAS denn? Ich liebe es!‘ In diesem Einheitsbrei aus Mumble-Trappern und vage deepen Conscious-Rappern will ich das verrückte, schräge Kind verkörpern, das ich schon immer gewesen bin.“
– LEX the Lexicon Artist bei Resonate