Je länger man sich mit 365 Female MCs befasst, desto stärker wird der Eindruck, das es jede Kombination aus Nationalität und Genres schon einmal gegeben hat. Die weibliche Rapszene ist weit gestreut, diverse Genres werden überall auf der Welt miteinander kombiniert und erschaffen wieder Chancen für Musikerinnen. Bei der Recherche zu dieser Künstlerin allerdings, lauerte eine kleine Überraschung – denn japanischen Reggae, den gab es auch auf 365 Female MCs noch nicht. Zeit, das mit der Künstlerin 775 zu ändern.
Doch bevor hier über die Künstlerin selbst gesprochen wird, lohnt sich ein Blick auf die Frage, wie Reggae und Japan überhaupt zusammengefunden haben. Reggae selbst hat seinen Ursprung in den 60er Jahren in Jamaika. Doch erst in den 80er Jahren, als Bob Marley mit einem berühmten japanischen Drummer gemeinsam arbeitete, erreichte das Genre Japan. Nachdem die ersten jamaikanischen Reggae-Alben mit Beteiligung japanischer Künstler:innen entstanden waren, war die Leidenschaft entfacht: Schnell bildeten sich Mitte der 80er erste Reggae-Festivals und -Bands in Japan, die noch bis heute existieren.
Nicht ganz so früh dabei gewesen, aber trotzdem Anhängerin des jamaikanisch-japanischen Subgenres, ist die Musikerin 775, die eigentlich Nanako heißt. 1997 in Kishiwada City geboren, begann sie schon früh, sich für Musik zu interessieren und als Jugendliche mit dem Rappen, Singen und DJing durchzustarten. Ihre erste offizielle Single „Crazy For You“ veröffentlichte sie zwar erst im August 2019, kurz darauf legte sie aber schon richtig los: Am 29. April 2020 erschien ihre Debüt-EP „Kunoichi“ in Zusammenarbeit mit den Produzenten Black Smith und Komori Takashi.
Das fünf Tracks starke Release konnte überzeugen: in kürzester Zeit baute die junge Künstlerin sich eine Fangemeinde auf und sorgte für großes Aufsehen. Jedes ihrer Musikvideos kann aktuell (Stand: August 2021) um die eine Million Views aufweisen – ihre Erfolgssingle „Yotte Welcome“ sogar mehr als vier Millionen. Zuletzt veröffentlichte 775 im Januar 2021 die Single „KSWD“, die ebenfalls in kürzester Zeit zum Erfolg wurde.
Bob Marley, der persönlich den Reggae nach Japan gebracht hatte, scheint auch für Nanako eine große Inspiration zu sein. In mehreren Musikvideos finden sich Fahnen mit seinem Namen oder Gesicht, vor denen die Musikerin performt. Dabei nutzt 775 nicht nur Reggae-Einflüsse, sondern liefert das volle (stereotypische) Paket: Cannabis-Socken, Braids, Joint und Jaimaika-Flaggen, soweit das Auge reicht. Interessant ist aber, dass sie diese stereotypische Darstellung nicht vollständig auf Musik, Outfits und Videos ausweitet, sondern häufig Kontraste schafft. So finden ihre Reggae-Songs immer wieder in dunklen Gangsta-Rap Locations oder vor traditionell japanischen Kulissen statt.
Zu beurteilen, wo hier die Grenzen zwischen Kunstfreiheit und kultureller Aneignung liegen oder womöglich überschritten werden, kann ich mir als weiße Europäerin an dieser Stelle nicht erlauben. Wie man diese Fusion aus japanischer und jamaikanischer Kunst auch beurteilen mag – 775 beweist allemal, dass der Kreativität und dem individuellen Stil in der Musikwelt keine Grenzen gesetzt sind.